Datenpoesie

  • Hannes Bajohr
  • ·
  • 2018-04-23

[Der folgende Text erschien am 27.2.2018 in der NZZ unter dem Titel »Unermüdlich dichtet das Maschinchen«.]

Digitale Literatur – was war das noch? Damals, tief in den neunziger Jahren, schwärmten Literaturwissenschaftler von der Hyperfiktion, von Texten ohne Zentrum, durch die sich der Leser selbst seine Pfade schlagen und per Link beliebig von Abschnitt zu Abschnitt gelangen konnte. Was aber einigen als Zukunft der Literatur erschien – in der sich vor allem liebgewonnene Konzepte der Postmoderne wiederfinden ließen –, war bald zu einem Genre ohne Leser und, schlimmer noch, ohne Produzenten geworden. Es gibt sie nicht mehr.

Und heute? Müsste in Zeiten der Digitalisierung die digitale Literatur nicht eigentlich das zentrale Genre der Gegenwart sein? In der Tat gibt es heute eine quicklebendige, aber nur wenig beachtete Szene. Anders als damals geht es nicht mehr darum, mehr oder minder konventionelle Texte durch Linkverzweigungen ihrer Linearität zu berauben. Heute wird der Computer selbst zum Textproduzenten. Das Ergebnis ist eine ganz andere Literatur, die von den Bedingungen des Digitalen erzählt, wie es ein klassischer Realismus nie könnte.

Digitale Literatur ist heute vor allem generative, das heisst von Algorithmen produzierte Literatur, ohne dadurch, wie die Unkenrufe oft verheissen, unmenschlich zu werden. Für sie ist das bestehende Textmaterial im Internet das große Reservoir an Welt, das wieder und weiter verwendet werden kann. Gerade Twitter ist seit einigen Jahren ein beliebtes Spielfeld für sogenannte Bots, wie die kleinen Textgeneratoren heissen. Haben sie wegen automatisierter Fake-News einen schlechten Leumund, können Bots doch auch selbstgesteuert Literarisches absetzen.

Parodie und Subversion

Fast schon klassisch ist etwa Ranjit Bhatnagars @pentametron, ein Twitter-Bot, der alle gerade in der Welt gesendeten Tweets daraufhin überprüft, ob sie zufällig einen jambischen Pentameter bilden. Findet er zwei, die sich reimen, gibt er sie als Zweizeiler wieder – «My cousin is a walking megaphone / The intersection modifies the cone» – und poetisiert so das Alltagsgebrabbel sozialer Netzwerke. Der von Jia Zhang programmierte Bot @censusAmericans dagegen humanisiert die Datenmasse der letzten US-Volkszählung, indem er daraus in ihrer Lakonie niederschmetternde Kurzbiografien extrahiert: «I had a baby last year. I don’t have health insurance. I have a high school diploma. I have never been married.»

Dabei muss digitale Literatur gar nicht an Bildschirme gebunden sein. Der deutsche Medienkünstler Gregor Weichbrodt gehört zu einer wachsenden Gruppe von Autoren, die Algorithmisches auf Papier publizieren. Für sein im Frohmann-Verlag erschienenes Buch «I Don’t Know» hat er ein Programm geschrieben, das zufällig Artikeltitel aus Wikipedia auswählt und dann über dreihundert Seiten hinweg leugnet, etwas über die genannten Themen zu wissen. Das reicht von vernünftigen Sätzen wie «Ich bin nicht vertraut mit Vincaalkaloiden» bis hin zu Absurditäten wie «Ich weiss nicht, was die Leute mit ‹ein Gebäude› meinen». Das Buch ist eine Grenzvorstellung für die Wissensökonomie der Gegenwart, in der persönliche Belesenheit mehr und mehr durch den Zugriff auf Datenbanken abgelöst wird.

All diese Beispiele zeigen, wie digitale Literatur klassische Vorstellungen von Autor und Leser unterläuft: Nicht nur ist der Autor kein Originalgenie mehr und wird Kurator des schon Existierenden; auch der Schöpfungsprozess verschiebt sich auf eine sekundäre Ebene: Es wird geschrieben, um dann schreiben zu lassen, denn es ist der vom Autor konstruierte Code, nicht mehr der Autor unmittelbar selbst, der den Text hervorbringt. All das erfordert schliesslich auch ein anderes Lesen, das den Text statt als Träger von Bedeutung eher als Illustration eines Konzepts betrachtet. Diese Werke liest man nicht konzentriert Satz für Satz durch, man liest sie eher bald hier und bald da an, um aus dem Output Rückschlüsse auf die Machart des unsichtbaren ersten Textes, des Programmcodes, zu ziehen.

Damit bildet digitale Literatur ab, wie wir mit Text im Digitalen heute ohnehin umgehen: Kopieren und Einfügen ist zur allen verfügbaren Standardoperation geworden, gleichzeitig ist das Überfliegen einer Website die Lektürenorm, die etwas ganz anderes ist als das klassisch-hermeneutische Lesen. Die Idee, die hinter dem Algorithmus steht, ist hierbei oft wichtiger als der vom Rechner produzierte Text. Das rückt die digitale Literatur nah an die Sensibilität des sogenannten konzeptuellen Schreibens heran, deren Autoren, etwa Kenneth Goldsmith oder Vanessa Place, sich noch analoger Mittel bedienen. Weichbrodts 350-Seiten-Werk soll eher bedacht als gelesen werden.

Potenzierte Phantasie

Überhaupt darf man nicht meinen, diese Literatur sei nur etwas für Nerds oder sie läute das Ende einer hehren Literaturtradition ein. Im Gegenteil, ihre Vertreter sehen sich oft in direkter Nachfolge der klassischen Avantgarden, die sich stets, von Dada bis Oulipo, für Zufallsoperationen und kombinatorische Spiele begeisterten und oft alle Arten von «Realismus» verwarfen. Die Medientheoretikerin Jessica Pressman spricht daher auch von einem «digital modernism», einer nachgeholten Moderne, der erst heute die adäquaten, nämlich digitalen Mittel zur Verfügung stehen.

So bezieht sich etwa der MIT-Professor Nick Montfort für seinen Roman «Megawatt» auf die nach strengen Regeln geschriebenen Stellen aus Samuel Becketts «Watt», wo etwa eine Genealogie bis in die dritte Generation permutiert wird: «der Vater meines Vaters und der Vater meiner Mutter und die Mutter meines Vaters . . .» Beckett führt, noch ganz analog, einen Algorithmus aus, den nun Montfort in einer Programmiersprache nachbaut. Aber statt ihn nur zu rekonstruieren – was in sich bereits eine Leistung wäre, eines Pierre Menard von Borges würdig –, geht er mit Beckett über Beckett hinaus.

Montfort erweitert die Generationentiefe auf sechs und lässt so die Seitenzahl dieser Stelle von einer auf siebenundzwanzig anwachsen: «Watt» wird nach oben skaliert: «Megawatt». Neben der Einsicht in Becketts Arbeitsweise zeigt Montfort in seiner algorithmischen Einfühlung nebenbei auch, wie viel digitale Literatur schon avant la lettre in der Literaturgeschichte steckt. Dieses Traditionsbewusstsein gepaart mit der technischen Fähigkeit, das Digitale in seiner Logik darzustellen, macht solche Textexperimente zu ernstzunehmenden Formen einer Avantgardeliteratur der Gegenwart.

Hans Magnus Enzensberger, der in den siebziger Jahren noch selbst einen programmierbaren Poesieautomaten erdachte, stellte vor wenigen Jahren «Regeln für die digitale Welt» auf, die eine völlige digitale Enthaltsamkeit predigen und E-Mails lieber durch Postkarten ersetzt sähen. Die digitale Literatur der Gegenwart stellt sich gegen solche Versuche, unserer Wirklichkeit nur auszuweichen. Statt die Furcht vor den Algorithmen zu predigen, macht sie deren Machart transparent.

Der österreichische Codepoet Jörg Piringer sieht darin eine geradezu emanzipatorische Aufgabe: «die poetinnen der kommenden jahre werden nicht zusehen und konzernen die hoheit über die sprachalgorithmen überlassen.» Stattdessen, so Piringer, werden sie «datenpoesie erstellen», das heisst: eine «poesie aus den letzten geheimnissen der beobachtbaren welt».