Algorithmische Einfühlung: Über Nick Montforts »Megawatt«

  • Hannes Bajohr
  • ·
  • 2015-01-01

In Kürze wird im Frohmann-Verlag mein Roman Durchschnitt erscheinen, mein konzeptueller Kommentar zur Kanonfrage (später dazu mehr). Weil bei 0x0a bisher konzeptuelle digitale Literatur oft als gattungslos oder tendenziell lyrisch beschrieben wurde – zumal in bewusster Abgrenzung zu jenem Realismus, der immer noch vor allem im Roman regiert – ist es jetzt vielleicht Zeit zu untersuchen, dass sie auch etwas zur Erweiterung der Gattung des Romans selbst beitragen kann.

 


Seit 1999 gibt es den National Novel Writing Month, abgekürzt NaNoWriMo, der jährlich im November (oder auch Movember) stattfindet und gewissermaßen als kollektive Selbstdisziplinierungsmaßnahme Hobbyautoren helfen soll, »to dust off their literary ambitions and finally write that novel they’ve always dreamed of.« Bedingung: Innerhalb eines Monats einen Roman von 50.000 Wörtern oder mehr zu produzieren, unabhängig von Kohärenz, Relevanz und allgemeiner Qualität. Auf NaNoWriMo.org gibt es dann die Möglichkeit, als Ansporn fähnleinfieselschweifartige »badges« für schon erreichte Wortmeilensteine zu erhalten.

Interessant dabei ist, dass der Romanschreibemonat als Prokrastinationstherapeutikum für notorische Aufschieber zweierlei Zwang verwendet, nämlich die zeitliche Begrenzung und die Längenvorgabe. Damit wäre man schon fast bei der Art von Selbsteinschränkung, die für konzeptuelle Literatur typisch ist. Allerdings berühren diese Limitierungen nicht notwendig das Formale der Romane selbst, die dann im Ergebnis auch oft entweder bestimmte Fanfiction-Genres bedienen oder – mit mehr selbstgewisser Seriosität – eben jenen Realismus ausstellen, mit dem man den »großen Roman« heute verbindet, der aber in Wirklichkeit nichts als jene inhaltszentrierten Ernsthaftigkeitsgesten simuliert, die im literarischen Feld als Bedingung für »hohe« Belletristik gelten. In den USA schließt das durchaus auch die Trainingsartigkeit der Creative-Writing-Programme ein, die solche »challenges« eher als Eskaladierwände begreifen, sich über alle Einschränkungen hinweg zum Realismus durchzukämpfen. (No Plot? No Problem! heißt das Literaturselbsthilfebuch des NaNoWriMo-Gründers Chris Baty – was gerade nicht bedeuten soll, glücklich plotlos zu bleiben, sondern darauf zu hoffen, die Story werde sich schon von selbst ergeben, wenn man sich nur hinsetzt und macht.)

Konzeptuell ist diese Literaturform also nur im Potentialis. Man könnte nun schlicht die formalen Einschränkungen erschweren und würde dann am Ende Massenkonzeptromane erhalten, als noch zu gründender NaCoNoWriMo. Oder man schränkt die Produktionsmittel selbst ein, wie das der code artist Darius Kazemi getan hat. Seine Variante heißt NaNoGenMo – National Novel Generation Month. Statt selbst kreativ zu schreiben, geht es hier um das codegesteuerte kreative Schreibenlassen. Dieses Jahr bereits zum zweiten Mal verpflichteten sich hunderte von codeerfahrenen Schreibern, Scripts und Programme zu entwerfen, die eben jenen 50.000-Worter generieren, statt ihn selbst zu schreiben. (»Roman« ist in diesem Fall pragmatisch gefasst, das heißt paratextuell: Wo Roman draufsteht, ist auch Roman drin.) Dabei sind ganz hochinteressante und sehr unterschiedliche Ergebnisse herausgekommen. In loser Folge möchte ich davon einige vorstellen und dabei vielleicht etwas über digitale Literatur herausfinden, wie sie funktioniert – und vor allem, was sie für den Roman leisten kann.

Den Anfang macht eine bestechende Arbeit von Nick Montfort (neulich schon als praktischer Code-Historiker unter anderem Brion Gysins gewürdigt), der den Roman Megawatt generieren ließ. Rekonstruktion und Steigerung von Samuel Becketts hochartifiziellem Roman Watt in einem, wählte Montfort sich aus der Vorlage Passagen mit systematischen Manierismen aus und ließ sie durch ein Python-Script simulieren. Aber statt nur automatisch zu generieren, was Beckett manuell geschrieben hatte (was selbst schon – Pierre Menard style – bemerkenswert wäre), ging er mit Beckett über Beckett hinaus und erweiterte diese Passagen nach den immanent gewonnen Regeln des Originaltextes. So gibt es etwa zu Beginn von Becketts Buch eine Passage, in der Watt einem Gesprächspartner nicht folgen kann, weil er selbst Stimmen hört:

Now these voices, sometimes they sang only, and sometimes they cried only, and sometimes they stated only, and sometimes they murmured only, and sometimes they sang and cried, and sometimes they sang and stated, and sometimes they sang and murmured, and sometimes they cried and stated, and sometimes they cried and murmured, and sometimes they stated and murmured, and sometimes they sang and cried and stated, and sometimes they sang and cried and murmured, and sometimes they cried and stated and murmured, and sometimes they sang and cried and stated and murmured, all together, at the same time, as now, to mention only these four kinds of voices, for there were others. And sometimes Watt understood all, and sometimes he understood much, and sometimes he understood little, and sometimes he understood nothing, as now.

Nach kurzem Lesen erkennt man, dass Beckett hier die simpelste aller Textgenerierungregeln bemüht: die Permutation kombinatorischer Möglichkeiten aus einem endlichen Satz von Elementen (so wie Gysin das in seinen permutation poems getan hatte). Die Stimmen besitzen vier mögliche Zustände, »sang«, »cried«, »stated«, »murmured«, die sie einzeln oder in verschiedenen Verbindungen einnehmen können und deren Kombinationen Beckett durchspielt. Zusätzlich versteht Watt »all«, »much«, »little« und »nothing«.

Der Absatz ähnelt also zwei Funktionen – einer für die Stimmen und einer für das Verstehen – die völlig automatisiert mit demselben Ergebnis auch durch ein Skript erzeugt werden könnten. Genau das tut Montfort im ersten Kapitel von Megawatt, »The Voices«. Aber weil Beckett zugesteht, dass es noch mehr Stimmen gebe (»for there were others«), und weil Montfort weiß, dass sich bei einer Permutationsreihe die Anzahl der Möglichkeiten pro Element exponentiell vermehrt, fügt er zu Becketts vier weitere Verben hinzu: »babbled«, »chatted«, »ranted«, »whispered«. Ebenso kann Watt nun zusätzlich »most«, »half«, »less«, und »bits« verstehen. Montforts Version ist dann auch mit sieben Seiten etwa zwanzig Mal länger als der Originalabsatz. Hier die erste Seite, für die ich die enthaltenden ursprünglichen Sätze schwarz hervorgehoben habe – man sieht, wie sich die Abstände zwischen ihnen vergrößern, weil sich bei mehr Elementen längere Kombinationsreihen ergeben:

Watt heard voices. Now these voices, sometimes they sang only, and sometimes they cried only, and sometimes they stated only, and sometimes they murmured only, and sometimes they babbled only, and sometimes they chattered only, and sometimes they ranted only, and sometimes they whispered only, and sometimes they sang and cried, and sometimes they sang and stated, and sometimes they sang and murmured, and sometimes they sang and babbled, and sometimes they sang and chattered, and sometimes they sang and ranted, and sometimes they sang and whispered, and sometimes they cried and stated, and sometimes they cried and murmured, and sometimes they cried and babbled, and sometimes they cried and chattered, and sometimes they cried and ranted, and sometimes they cried and whispered, and sometimes they stated and murmured, and sometimes they stated and babbled, and sometimes they stated and chattered, and sometimes they stated and ranted, and sometimes they stated and whispered, and sometimes they murmured and babbled, and sometimes they murmured and chattered, and sometimes they murmured and ranted, and sometimes they murmured and whispered, and sometimes they babbled and chattered, and sometimes they babbled and ranted, and sometimes they babbled and whispered, and sometimes they chattered and ranted, and sometimes they chattered and whispered, and sometimes they ranted and whispered, and sometimes they sang and cried and stated, and sometimes they sang and cried and murmured, and sometimes they sang and cried and babbled, and sometimes they sang and cried and chattered, and sometimes they sang and cried and ranted, and sometimes they sang and cried and whispered, and sometimes they sang and stated and murmured, and sometimes they sang and stated and babbled, and sometimes they sang and stated and chattered, and sometimes they sang and stated and ranted, and sometimes they sang and stated and whispered, and sometimes they sang and murmured and babbled, and sometimes they sang and murmured and chattered, and sometimes they sang and murmured and ranted, and sometimes they sang and murmured and whispered, and sometimes they sang and babbled and chattered, and sometimes they sang and babbled and ranted, and sometimes they sang and babbled and whispered, and sometimes they sang and 1chattered and ranted, and sometimes they sang and chattered and whispered, and sometimes they sang and ranted and whispered, and sometimes they cried and stated and murmured, and sometimes they cried and stated and babbled, and sometimes they cried and stated and chattered, and sometimes they cried and stated and ranted, and sometimes they cried and stated and whispered, and sometimes they cried and murmured and babbled, and sometimes they cried and murmured and chattered, and sometimes they cried and murmured and ranted, and sometimes they cried and murmured and whispered, and sometimes they cried and babbled and chattered, and sometimes they cried and babbled and ranted, and sometimes they cried and babbled and whispered, and sometimes they cried and chattered and ranted, and sometimes they cried and chattered and whispered,…

Montforts eigener kreativer Beitrag besteht aus den ersten drei Wörtern, dem lediglich expositionellen ersten Satz. Der Rest – Becketts Text wie die Erweiterungen – wurde rein durch Code generiert. Dieser gibt also zunächst aus, was Becket schrieb (der schwarze Text) – dann aber zusätzlich nicht nur, was er schreiben könnte, sondern auch, was er seinen eigenen Regeln zufolge schreiben müsste (der graue Text). Megawatt ist damit eine Form der algorithmischen Einfühlung, die keine Kopie, sondern ein rekonstruktiver Nachvollzug ist, von dem man mit mehr Berechtigung sagen kann, dass sie im Geiste Becketts geschehe, als jedes Epigonenerzeugnis, jede Pastiche oder Parodie es könnte. Aber während Megawatt für Watt durchaus dem nahekommt, was Borges’/Menards Don Quixote für Cervantes’ Don Quixote ist, ist es andererseits, weil es nicht nur rekonstruktiv, sondern produktiv nachvollzieht, auch das, was Ulysses für die Odyssee ist – ein Mehr, das über die Vorlage hinausgeht.

Montfort gibt damit einerseits der These Jessica Pressmans Recht, dass digitale Literatur zu den Konstruktionsmechanismen der historischen Avantgarden zurückkehrt, sie aber – als digital modernism – mit angemesseneren Mitteln und konsequenter umsetzt; andererseits zeigt er aber auch, wie selbst im strengen Regelnachvollzug bereits ein produktives Moment liegt, dass womöglich gerade aus der irritationsfreien Engstirnigkeit von Algorithmen folgt.

Für die Literaturwissenschaft müsste Megawatt damit eigentlich zu jenen paradigmatischen textontologischen Grenz- und Beispielfällen werden, die germanistische Einführungsseminare füllen – nur, dass er eben nicht, sagen wir, das Fiktionalitätskriterium für Literarizität zerreibt, sondern den Unterschied zwischen analoger und digitaler Literatur auf den Punkt bringt. Denn dieser Unterschied macht sich an einem doppelten Textbegriff fest: Ist Watt ganz wörtlich nur ein Text, besteht Megawatt aus zweien: dem Code und dem Output. Bisher habe ich nur über den Output gesprochen. Aber am Ende seines Buches hat Montfort den Code abgedruckt, bei dem das Buch seinen Ausgang nimmt – und der von jedem wieder durch einen Python-Interpreter gejagt und für den damit die Performanz des doppelten Textes nachvollzogen werden kann. Im Digitalen, davon geht 0x0a ja aus, ist der Text Tat und Gedanke.

Im Anhang von Megawatt findet sich dann auf nur 27 Zeilen der Code für die sieben Seiten von »The Voices«. Nachdem die den Text letztlich zusammensetzende Funktion combine definiert wurde (Zeile 3-12), zeigt Montfort erst, wie man Becketts eigenen Text als Satz von Elementen eines Python-Arrays verstehen kann (Zeile 14-15, zu überspringende Zeilen sind mit # auskommentiert), um dann seinen erweiterten Satz von Elementen vorzustellen (Zeile 16-18). Der Rest des Scripts setzt dann diese Elemente zusammen (Zeile 21-27) und versieht sie mit den Bindegliedern, die auch Beckett verwendet hat (etwa »and sometimes they«, Zeile 20):

 	1  #### THE VOICES
	2  text.append('\n# I\n\n')
	3  def combine(num, words):
	4     final = []
	5     if num > 0 and len(words) >= num:
	6         if num == 1:
	7             final = final + [[words[0]]]
	8         else:
	9             final = final + [[words[0]] + 
	10            c for c in combine(num – 1, words[1:])]
	11        final = final + combine(num, words[1:])
	12    return final
	13  
	14 ## In Watt the voices = ['sang', 'cried', 'stated', 'murmured']
	15 ## And Watt understood = ['all', 'much', 'little', 'nothing']
	16 ## Here the voices did eight things and there are eight levels:
	17 voices = ['sang', 'cried', 'stated', 'murmured', 'babbled', 'chattered', 'ranted', 'whispered']
	18 understood = ['all', 'most', 'much', 'half', 'little', 'less', 'bits', 'nothing']
	19 para = ''
	20 preface = ', and sometimes they '
	21 for num in range(len(voices)):
	22    for word_list in combine(num + 1, voices):
	23        para = para + preface + ' and '.join(word_list)
	24        if len(word_list) == 1:
	25            para = para + ' only'
	26 para = ('Watt heard voices. Now these voices,' + para[5:] +
	   ', all together, at the same time, as now, to mention ' + 
	   'only these ' + spelled_out[len(voices)] + ' kinds of voices, for ' + 
	   'there were others. And sometimes Watt understood ' + 
	   ', and sometimes he understood '.join(understood) + ', as now.')
	27 text.append(para) 

Mit diesem tieferen Text, dem Code hinter dem Output, lässt sich die inhärente Nähe von code poetry und Konzeptualismus illustrieren – das Verhältnis von Idee und Ausführung ist dem von Code und Output analog. Es ist aber nur eine Analogie, keine Identität, weil der Output (solange es keine Zufallsvariablen gibt) endlich determiniert ist, während es im Konzeptualismus durchaus noch das erratische (nicht zu sagen: expressive) Moment des Ausführaktes gibt, das bei gleichem Konzept eine Differenz von Ergebnissen hervorbringt (denn perfunctory ist es gerade nicht).

Freilich ist das nur das erste Kapitel des Buches, dessen neun eine wirklich ausführliche Untersuchung verdienten. Bis auf das letzte sind es alle Formen von Permutation, die aber ganz verschieden und sehr effektiv eingesetzt werden – begonnen bei einer geradezu megabiblischen Genealogie im vierten Kapitel (»my father’s mother’s mother’s mother’s and my mother’s father’s father’s father’s and my mother’s father’s father’s mother’s [earth]«) bis hin zum achten, dem totalen Megakapitel, das von Seite 25 bis Seite 239 die unsteten Eigenschaften Mr. Knotts auflistet und damit zu den längsten je geschriebenen Figurenbeschreibungen zählen muss – »to mention only the figure, stature, skin, hair, eyes, body type, facial hair, and posture.«