Übersetzung als Aneignung, Ansetzung und Übereignung: Dagmara Kraus über ihr Appropriations-Projekt LENZ (Büchner Mueller Graham Kraus), der ersten »Übertragung« konzeptueller Literatur auf 0x0a, der noch weitere folgen werden.
Heißt es in Georg Büchners einziger Novelle, der in den Vogesen mit dem Wahnsinn ringende Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz gehe »den Wald herauf« und, etwas weiter, »den Wald herab«, übersetzt C. R. Mueller beide Fälle einfach als »through the forest«. Rodney Graham nutzt diesen Glücksfall einer Übersetzungsungenauigkeit und greift an der Stelle ein, um die Wiederholung weitere Wiederholungen generieren zu lassen. Er setzt die drei Worte so über den Seitenumbruch, dass »through« jeweils auf der linken Seite des Buches steht, »the forest« auf der rechten. An das zweite »through« schließt allerdings nicht die Wortfolge der Originalerzählung an; stattdessen wird die dem Leser bereits bekannte Seite anmontiert, die zwar auch mit »the forest« beginnt, aber fortfährt wie eingangs: »and voices awakened on the rocky slopes, one moment like distant echoing thunder…« Hier beißt sich die Schlange in den Schwanz.
Bevor der Text 83 Wiederholungen und ein paar hundert Seiten später plötzlich abbricht, hat Lenz sich 84 Mal »in das All hineingewühlt«. 84 Mal – zählt man das Urmal hinzu – haben ihn »namenlose Angst« und »unnennbare Angst« heimgesucht; 84 Mal, potentiell allerdings unendlich oft, hat er sich im Zuge eines psychotischen Anfalls nachts »in den Brunnstein« gestürzt (oder wurde vielmehr von Graham darein gestoßen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, um sich den Schubser vorzuknöpfen…); 84 Mal ist Lenz »leer« geworden, während die Seiten sich um ihn füllten – mit Leerlauf, wohlkalkuliertem Leerlauf.
Zurückgeworfen in den eigenen Hallraum, in die selbstrekursive Schleife, herbeigeführt durch Kurzschluss, in den vielfach verabgründigten Text im Text, dieses mise en abyme, das wieder und wieder das Verderben seines Protagonisten rezitiert, ist Grahams umfangreicher Quasi-Refrain, schier bis zum Gehtnichtmehr durchexerziert, mitten im Binnentext eine literaturhistorische Kuriosität. Dass dem Muttertext übrigens 83 ununterscheidbare »Klone« (Jeff Wall) eines Selben inkorporiert wurden, lässt sich vermutlich als Anspielung auf die Entstehungsjahre von LENZ-Original und LENZ-Adaptation verstehen, 1839 und 1983.
Wiederholung zeitigte Wiederholung: eine kleine auf der Wortebene die größere auf der Ebene der Textstruktur. Dabei scheint sich die erste Wiederholung hinsichtlich Intensität und Dichte der Erzählung wie ein Brennglas auf den Text ausgewirkt zu haben. Gewissermaßen verantwortet eine Lupe den Loop, denn sie machte – gleichsam qualitativer Sprung – aus dem Wanderer Lenz, dem Geher, einen Springer, einen Meister des Rückwärtssaltos und verwandelte somit eine »Schritt-Literatur« in »Sprung-Literatur« (Elias Canetti)…
Grahams LENZ ins Deutsche zu übertragen ist eigentlich gar nicht möglich. Dazu müsste man Muellers englischen LENZ erst ins Deutsche rückübersetzen – Büchners LENZ also wieder in Büchners LENZ – um diesen dann mittels einer Dopplung der Wortfolge »durch den Wald« zu verfälschen. Anders als durch einen derart heiklen Eingriff, ließe sich Grahams Loop im Deutschen nicht am selben Textort platzieren. Es bietet sich daher an, allein das Konzept zu übertragen und Büchners LENZ an anderer, geeigneterer Textstelle mit einer Wiederholungsschleife zu versehen, sie lautet: »Er sprang auf«. Und das heißt: Lenz sprang auf und LENZ sprang auf – Letzterer wie eine Knospe, die sich im Loop entfaltet; wie eine Wunde, die sich am jedesmaligen Loopbeginn wieder öffnet, um 83 Mal nachzubluten.
Meine Übertragung nimmt eigenmächtig Änderungen an Grahams Text vor. So führe ich den Loop bereits nach den ersten 1031 Wörtern in den Originaltext ein und reduziere ihn um ein Vielfaches, zumal ich mir eigene, relativ willkürliche Parameter erfinde: »Er sprang auf« hat elf Buchstaben; diese Zahl – persönliche Obsession der Stunde – generiert in meiner Textversion elf Wiederholungen. Womöglich hätte ich dem Text genauso gut 20 Loops einbauen können – als Anspielung etwa auf den 20. (Jänner), Datum der Büchner-Lenzschen Wanderung »durch’s Gebirg«. Oder 16. Oder 2016, um der Jahreszahlensymbolik Grahams treu zu bleiben. Oder 9 (als Quersumme daraus). Auch hätte ich mit Grangaud-Pastior nach Letterngewicht loopen können. Die 11 kommt der so ›erzählten‹ 115 (E=5, R=18…) ziemlich nah, aber überspannt den Bogen nicht.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger bricht der neue LENZ nicht einfach ab. Eine digressive Episode des Textes, mündet sein Loop zuletzt wieder in den Büchnerschen Textverlauf ein. Ich schenke ihm die Erlösung.
Um das schlichte Verfahren des präparierten LENZ in nuce darzustellen, simuliere ich im Folgenden einen Miniaturloop aus Büchner, an Stellen montiert, die – da im Original jeweils wiederholt – ebenfalls in Iterationssalven hätten münden können oder münden könnten: 1. »wenn der Sturm das Gewölk«, und 2. »er stand«. Auch hier gibt der gefakte Textanschluss aufgrund der Nahtlosigkeit der Überblendung seine Falschheit zunächst nicht preis. Dass der Textsprung womöglich erst gar nicht auffällt, liegt daran, dass Büchners Sprache in ihrer hypotaktischen Beschaffenheit Manipulationen dieser Art vortrefflich toleriert. Fast unbemerkt entwickelt sich eine falsche Linearität im Text und ersetzt die echte, indes die Himmelshandlungen in einer steril-statischen Serialität suspendiert werden: