Schreibenlassen. Gegenwartsliteratur und die Furcht vorm Digitalen

  • Hannes Bajohr
  • ·
  • 2014-11-24

(Dieser Text entstand, bevor es 0x0a gab. Er wurde in dieser Form zuerst auf hannesbajohr.de veröffentlicht. Eine redaktionell gekürzte Version erschien in: Merkur, 7/2014. Ich stelle ihn hier online weil er zur Vorgeschichte von 0x0a gehört und es direkt motiviert hat.)

Ian Sommerville schrieb Anfang der 1960er auf einem Honeywell-Computer ein äußerst simples Programm. Der Input bestand aus einer Zeichenkette (»Satz«), deren n Elemente (»Wörter«) durch Leerzeichen getrennt waren. Gemäß aller möglichen Kombinationen wurden diese Elemente neu zusammengesetzt und alle Permutationen (»Zeilen«) untereinander auf einem Monitor als Textblock ausgegeben (»Gedicht«). Bei einem »Satz« aus n »Wörtern« entsteht demnach ein »Gedicht« aus n! »Zeilen«. Ist n=5, sind das 5·4·3·2·1=120. Aus dem Input »I AM THAT I AM« wird so:

I AM THAT I AM

AM I THAT I AM

I THAT AM I AM

Und so weiter, bis Zeile 120. Der Ausgangssatz stammte vom Künstler und Schriftsteller Brion Gysin, der Sommerville den Auftrag für die kleine Programmierarbeit erteilt hatte.[1] Die erklärte Absicht: Bedeutung sollte nicht von außen an das Ergebnis getragen werden, der permutierte Text sollte seinen Sinngehalt von selbst preisgeben.

Gysin und Sommerville arbeiteten nicht das erste Mal zusammen. Als Team hatten sie schon die Dreamachine erfunden, die nichts anderes war als ein durchlöcherter Lampenschirm, der auf einem Plattenteller rotierte und jenen Stroboskopeffekt simulieren sollte, den ein schläfriger Beifahrer hinter geschlossenen Lidern erfährt, wendet er den Kopf vor vorbeisausenden Baumwipfeln gegen die Sonne. Sommerville und Gysin hofften, dass das künstlich erzeugte Flackern auf die Hirnwellen des Benutzers einwirken und ihn so in andere Bewusstseinszustände katapultieren könne.

Ein kalter Technizist war Gysin also nicht und Sinnsuche kaum abgeneigt. In seinen zunächst steril anmutenden Permutationsgedichten steckt derselbe Mystizismus. Der erste Satz, den das Programm verarbeitete, war ausge­rechnet die göttliche Tautologie, das »Ich bin, der Ich bin«, die Namensoffenbarung Gottes vor Mose im Tanach. (Gysin hatte sie allerdings nicht aus dem Alten Testament, sondern in Aldous Huxleys Meskalin-Vademekum Die Pforten der Wahrnehmung gefunden.) Der Algorithmus wird hier zum Sinngenerator, der schon in der zweiten Zeile das himmlisch Offenbarte in numinosen Selbstzweifel stürzt: »Bin ich, der ich bin?«

Diese beiden Pole, die kalte Kombinatorik und die hehre Sinnerwartung, spielen auch bei der »Entdeckung« eine Rolle, die Gysins Nachruhm sicherte: der Technik des Cut-Up, bei der Texte – Zeitungsspalten, Buchseiten, Werbezettel – in Stücke geschnitten und zufällig neu zusammengesetzt werden. »Writing is fifty years behind painting«,[2] lautete sein berühmter Legitimationsverweis auf die Collagen der Vorkriegsavantgarden, mit dem er dem ganzen Unternehmen den Anstrich aufholender Notwendigkeit verlieh. Gysins Freund William S. Burroughs wandte Cut-Up später mit bestürzender Effektivität für seinen Schizo-Roman Naked Lunch an, und auch in diesem Zerschneiden und Neuzusammensetzen konnte Sinn in strahlender Plötzlichkeit zu Tage treten.

Sicher, das Ganze ähnelte den Textexperimenten Tristan Tzaras, der 1920 Dada-Gedichte mit aus einem Hut gezogenen Wortschnipseln improvisierte. Tzara, den Gysin in den fünfziger Jahren gelegentlich in Paris traf, beschwerte sich dann auch einmal dem Jüngeren gegenüber, dass die Literatur seit Dada nichts Neues mehr zustande gebracht habe.[3] Er irrte. Das Neue aber waren nicht Gysins Cut-Ups, die tatsächlich ganz ähnlich wie Tzaras Hut funktionierten. Es war seine digitale Lyrik.

Denn Gysins Permutationsgedichte waren nicht einfach eine modernisierte Form der Textcollage. Wie überall, wo das Digitale Einzug hält, gibt es plötzlich einen Sprung: Gysin ersetzte das Materiegeschnipsel durch einen Algorithmus, der ohne analoges Trägermedium auskommt. Mit Sommervilles Hilfe schuf er etwas noch nie Dagewesenes – digitale Literatur. Sein permutation poem ist ein »Gedicht«, das kein Ding mehr ist, sei es eines aus Tinte und Papier oder ein fertiges »Werk«. Es ist ein Unding aus flirrenden Elektronenimpulsen, ein Unwerk, das jederzeit weiter permutiert und verarbeitet werden kann, weil es nie zu einem Endzustand gerinnt, sondern fließend bleibt. Was Gysin voraussah, war die Entmaterialisierung des Textes. Er ahnte die flüssige Wirklichkeit unserer digitalen Welt.

Die Liquidierung der Realität, die sich in ihrer finiten Substanz auf- und von ihrer materialen Fixiertheit loslöst, gehört zu den offensichtlichsten Umwälzung der Gegenwart. Wer Texte am Computer schreibt, sie auf Tablets liest oder in der Cloud bearbeitet, ohne sie je zu Tinte auf Papier werden zu lassen, hat an dieser Verflüssigung ebenso Teil wie derjenige, der sich an einem fremden Ort auf die GPS-Funktion seines Smartphones verlässt, statt sich durch die Patentfaltung gedruckter Stadtpläne zu wursteln. Die Loslösung vom Materiellen findet sich im Hochfrequenzhandel der Börsen nicht weniger als im alltäglichen Konsumverhalten, von dem der Marketingsoziologe Russell Belk kürzlich schrieb,[4] dass materielle Güter, die noch vor dreißig Jahren wesentlicher Bestandteil des extended self waren, das Konsumenten-Ich heute immer weniger definieren. Schließlich hat sich die Speicherkapazität digitaler Medien faktisch ins Unendliche erweitert; weil alles gespeichert werden kann, wird es auch gespeichert, und neben neuen Wissensformen entstehen neue Kontrollmöglichkeiten. Damit ist in unserer Gegenwart die Vergangenheit selbst Vergangenheit geworden.

Vielleicht besteht deshalb die Reaktion auf das Unding des Digitalen nicht selten in einem Unbehagen, dass sich in nostalgische Verweigerung flüchtet, wie die zunehmende Nobilitierung des Dings in Kunst, Theorie und Alltag zeigt. Der Aufstieg von Materialitäts- und Dingtheorien wäre dabei das akademische Äquivalent zur Auratisierung des Handgefertigten – jener Retrosemiotik aus Tweed und geprägten Rindsleder, wie sie etwa im Film Her zum stilistischen Inbegriff einer Futuristik wird, die gerade deshalb völlig plausibel wirkt, weil sie in einer Welt körperloser Softwareakteure so offensichtlich die Sehnsucht nach handfester Stofflichkeit annonciert.

Das ist nur eine Inkarnation der Furcht vorm Digitalen und sie mag lediglich die Signatur einer Übergangszeit sein, in der das Alte in noch zu frischer Erinnerung und das Neue noch nicht selbstverständlich genug ist, so dass die Spannung zwischen beiden Übersprungshandlungen generiert. Die Kunsthistorikerin Claire Bishop beklagte entsprechend im Magazin Art Forum,[5] dass bildende Künstler heute zwar auf Schritt und Tritt und ganz selbstverständlich digitale Technologien benutzen, diese Tatsache aber entweder verschleiern, indem sie das Analoge fetischisieren (wie etwa Cyprien Gaillard, der seine mit der Handykamera gedrehten Videos auf 35-mm-Film überspielt und auf authentisch ratternden Großprojektoren laufen lässt), die bloß oberflächliche Aneignung von Netzinsignia betreiben (wie Dina Kelberman, die animierte gifs zu Onlinecollagen zusammenfügt) oder sich gar nicht erst der Frage stellen, »was es bedeutet, wenn wir heute durch das Digitale denken und sehen und unsere Affekte filtern«.

Was Bishop »das Digitale« nennt, hat als neuer Erkenntnismodus nicht nur den Umgang mit, sondern auch den Zugang zur Welt verändert. So irritierend vage der Begriff auch ist, plausibel ist zumindest, dass mit dem Internet Erudition allein kein hinreichendes Merkmal des Gelehrten mehr sein kann und nach Google Maps der Benjamin’sche Flâneur, der es versteht, sich in der Großstadt zu verlaufen, bereits eine hochartifizielle Figur ist.

Der Aufgabe, dieses noch nicht geklärte Digitale zu artikulieren, hat sich die bildende Kunst laut Bishop bis auf Ausnahmen eher verweigert. Und die Literatur? Auch hier herrscht viel Furcht vorm Digitalen. Ein Beispiel: Reinhard Jirgl, der vom avantgardistischen Außenseiter zum Büchnerpreisträger Aufgestiegene, dem man nur schwer formalen Konservatismus vorwerfen kann, echauffierte sich jüngst in der Neuen Rundschau über eine »elektronische Hybris«,[6] die er allerorten zu wittern meint. Die vom Verschwinden des Buches, des Autors oder des souveränen Genies reden, oder dem Internet mehr als bloß praktischen Nutzen zusprechen, seien nur auf ihren Marktwert bedachte »Protagonisten in eigener Sache«. Überhaupt, dieses Internet: Eigentlich doch nicht mehr als eine bessere Eisenbahn, das heißt für die Literatur höchstens Requisite: »Wie haben in der Vergangenheit gravierende technisch-wissenschaftliche Neuerungen – Telefon, Relativitätstheorie, Kernspaltung, Automobil, Radio, Fernsehen, Flugzeuge, Weltallraketen etc. pp. – die Literatur beeinflusst? Die Literaturen anverwandelten sie zu ihren Themen. Nicht weniger, nicht mehr.« Anderes werde auch im Fall des Internet und des Digitalen nicht geschehen: »Eigene neue Qualitäten hinsichtlich der Literaturen erwarte ich von diesen Medien keine.«

Es wäre Zeitverschwendung, im Einzelnen auf die zahllosen Studien zu verweisen, die zeigen, wie Entwicklungen in Technik und Wissenschaft weit mehr als nur die Inhalte von Literatur beeinflusst haben – angefangen beim filmischen Erzählen bis hin zu den Auswirkungen, die die Theorie der Thermodynamik auf die Figurenkonstellationen in Prousts Recherche hatte. Hinter Jirgls Invektiven steht schlicht die Idee von Literatur als perennierender Substanz, die erhaben das Neue betrachtet, ohne von ihm je selbst berührt zu werden. Dass er der Literatur trotzdem die »Versinnlichung bewusster menschlicher Erfahrung« als Aufgabe zuschreibt, macht in einer Welt, in der das Digitale eben jene Erfahrung radikal verändert, seinen ganzen Ausfall nur noch ärgerlicher.

Man sollte vielleicht nicht zu streng mit Jirgl sein, denn die Erwähnung des Digitalen ist im deutschen Literaturdiskurs selbst schon eine Anomalie. Blick man etwa auf die länger vor sich hin köchelnde Literaturdebatte um die mittelschichtige Erfahrungsarmut junger Autoren zurück, die Florian Kessler Anfang des Jahres in der Zeit anstieß, fallen zwei Dinge auf. Erstens, dass Literatur immer mit Prosa, genauer: dem Roman gleichgesetzt wurde. Aber der Roman, dieses Mastodon des neunzehnten Jahrhunderts, so sehr Ding wie wenig anderes, ist womöglich überhaupt die falsche Gattung, sich dem Digitalen zu nähern. Und damit zusammenhängend zweitens, dass ein verblüffend enger Begriff von Erfahrung in Anschlag gebracht wurde, nämlich so etwas wie eine Reportageperspektive: Ich war dabei und kann davon berichten. Dass gerade dieser hypersubjektive Anspruch den im Digitalen stattfindenden Identitätsverwischungen gar nicht gerecht werden kann, bleibt dabei natürlich auf der Strecke. Nimmt man beides zusammen, verwundert es nicht, dass am Ende alles darauf hinauslief, anderen das Rederecht zu entziehen, weil sie nicht den nötigen Authentizitätsnachweis erbringen können.

Dabei ist diese angepriesene Wunderformel aus Großnarration und Erlebnisgeprotze selbst überholt. Sie garantiert eher effektives personality marketing als aufschlussreiche Gegenwartsdarstellung, denn oft ist dieses »Erleben« selbst eine Konstruktion, die bestimmten stereotypen Konstanten gehorchen muss, um für authentisch (und vermarktbar) zu gelten. Und wieder ist das Beispiel Gysin erhellend. Er lebte in Marokko und in psychedelischen Drogen, brachte also alle Voraussetzungen zur Hyperauthentizität mit, aber statt dem großen Beat-Roman produzierte er Lyrik, die sich standhaft zu erleben weigert. Und doch steht sie, als digitale, fester im Jetzt steht als all die monierten Schreibschulenabsolventen und gelobten Echteweltromanciers.

Dass das Digitale in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur keine Rolle spielt, liegt durchaus auch am Reden über sie. Der kritische Apparat zur Analyse digitaler Literatur ist zwar, nicht zuletzt durch die Vorarbeit von Literaturwissenschaftlerinnen wie N. Katherine Hayles und Marjorie Perloff im englisch- und Stephan Porombka und Peter Gendolla im deutschsprachigen Raum, geradezu überausgestattet, aber dessen Anwendung beschränkt sich zumeist auf einen Satz früh kanonisierter Werke, die wieder und wieder herangezogen werden – allen voran Afternoon, a Story (1987) von Michael Joyce, das als erstes Hypertextnarrativ in keinem Essay über elektronische Literatur fehlen darf.

Auch in Arbeiten der letzten Jahre sind die behandelten Werke gerne noch aus den frühen Zweitausendern, was sicherlich an der normalen Latenz der Literaturwissenschaft liegt, dabei aber einen falschen Eindruck vom Stand der Dinge aufkommen lässt. Gerade diese frühe Hyperfiktion und ihre Lobreden, die vom nichtlinearen Erzählen schwärmten, von Texten ohne Zentrum, wirken heute als enthusiastische Zeugnisse einer vergangenen Zukunft fast rührend. Vor allem, weil hier die Vernetzung als willkommener Anwendungsfall liebgewonnener Konzepte der Postmoderne (Rhizom!) eher gesucht als gefunden wurde, aber auch, weil selbst diese sich noch am Roman orientieren und allen Ansprüchen ausgeliefert waren, die an und gegen ihn erhoben werden.

Wer sich heute dem Digitalen stellt, tut es, Gysin folgend, im Offenen der experimentellen Lyrik, die eher in den Grenzbereich zur bildenden Kunst hineinspielt, statt das große Erzählen zu propagieren. Das Spektrum ist breit und reicht von flarf-Poesie, die aus der Ergebnis­vorschau der Google-Suche Gedichte komponiert, über Kombinatorik­experimente wie Stephen McLaughlins Puniverse, das als formidable Kreuzung aus Idiom- und Reimlexikon siebenundfünfzig Bände mit computergenerierten Kalauern umfasst, bis hin zu den in Acryl gemalten QR-Codes des Schriftstellers Douglas Coupland, die sich, mit der Handykamera gescannt, in Lyrik verwandeln.

Deutschsprachige Vorstöße blieben dagegen bisher eher spärlich. Porombka, der 2001 einst den Hypertext als »digitalen Mythos«[7] verabschiedete und sich heute vor allem auf den sozialen Aspekt der Textproduktion im Internet, auf Twitter und Facebook als literarische Spielfelder konzentriert, gab vor inzwischen zwei Jahren unter dem Titel Flarf Berlin. 95 Netzgedichte eine Lyrikanthologie heraus, die flarf auch nach Deutschland bringen sollte. Doch scheinen die wenigsten der darin einmalig zum Experiment geladenen Autoren, außer vielleicht Alexander Gumz oder Jan Skudlarek, diese Ansätze auch für ihr eigenes Schreiben weiterverfolgt zu haben.

Es gibt noch andere Versuche – wie 2014 On the Road von Gregor Weichbrodt, der die in Jack Kerouacs Roman genannten Orte in die Google-Maps-Routenplanung eingab, deren Richtungsangaben als Langpoem veröffentlichte und so einen hyperexaktes Metanarrativ schuf –, aber diese Versuche sind im Ganzen gesehen derartige Ausnahmen, dass sich aus ihnen keine hierzulande einflussreiche »Richtung« ablesen lässt. Und auch trotz theoretisch geladener Symposien wie »Netzkultur« und »Literatur Digital« spürt man in der deutschen literarischen Praxis immer noch wenig vom Digitalen.

Womöglich haftet flarf und ähnlichen Experimenten, die das Internet zur Textproduktion heranziehen, wie etwa twit lit, in der Twitter zum literarischen Operationsfeld wird, noch etwas Allzuwörtliches an, das es leicht macht, sie zu ignorieren. Sie fischen nur die Oberfläche des Internet ab, ohne sich an die Untiefen des Digitalen zu wagen. Das Internet ist auch Google, ist auch das Stimmengewirr der sozialen Netze, aber darin erschöpft sich das Digitale nicht. Wie es in der Gegenwartskunst den Unterschied zwischen net art und digital art gibt, sollte man auch Netzliteratur von digitaler Literatur trennen. Das eine sind Schnappschüsse eines kulturellen, linguistischen und technologischen Augenblicks, der sich in der Geschwindigkeit verändert, mit der Meme und Plattformen auf- und wieder abtauchen; das andere sind Versuche, die Affektorganisation und Welt­wahrnehmung durch das Digitale überhaupt darzustellen.

Gleichwohl fehlt beides im Augenblick mehr als Das Große, Dreckige Erleben, von dem dann authentisch zu berichten wäre. Identität, die Authentizität nun einmal voraussetzt, spielt im Digitalen ohnehin eine geringere Rolle. Bereits Gysin nannte das Ergebnis seines Algorithmus ein »120-Zeilen-Gedicht ohne Autor«.[8] Denn am Ende weiß niemand mehr genau, wer hier das Gedicht schreibt: Gysin, der Programmierer Sommerville oder, auch möglich, der Honeywell-Computer – was weniger absurd ist, als wenn man bei Tzara auf den Hut getippt hätte.

Die Welt im Digitalen, das ist ein neuer Blick und ein großes Versprechen: Nichts ist mehr Ding, alles ist Text. Bilder, Töne, Filme sind Text. Sogar Text ist Text. Noch das Wort »Wort« ist auf einer tieferen Ebene, hexadezimal, als »57 6F 72 74« codiert und, wieder darunter, in Maschinencode, binär, als »01010111 01101111 01110010 01110100«. Ein Foto von Reinhard Jirgl und seine Texte sehen auf diesen niedrigeren Ebenen strukturell gleich aus. Erst die Ausleseregel, der Codec, bestimmt, was aus dem untersten aller Texte wird. Somerville/Gysins »Gedicht« mit seinen 120 »Zeilen« hätte auch eine Melodie sein können. Das ist die Dimension der Transkodierung, die man mit N. Katherine Hayles unter dem Schlagwort des stets auf eine andere Codierungsebene verweisenden »flickering signifier«[9] fassen kann und die im Digitalen den Übergang vom einen ins andere Ausgabeformat ermöglicht – so, als könnte man an einem Buch nicht nur die Lettern lesen, sondern auch Papier, Leimung und Heftfaden. Transkodierung ist zumindest ein zentrales Dispositiv des Digitalen.

Weil im Digitalen alles fluktuiert, ist es unmöglich, bei null anzufangen. Stattdessen ist, und zwar wirklich erst heute, alles frei, wieder und weiter verarbeitet, transkodiert und prozessiert zu werden. Was Hans Blumenberg über die Poetik Paul Valérys schrieb, ist ganz wörtlich wahr geworden: dass nämlich »die ‚Fertigstellung‘ des Werkes in seiner Dinglichkeit nur ein willkürlicher Einschnitt ist und daß das aus dem Prozeß seines Werdens herausgetretene Werk unmittelbar in einen neuen Prozeß eintritt«.[10] Dieser Einschnitt der Dinglichkeit ist im Unding aufgehoben. Das Digitale ist das Nichtendenmüssende, das Immerweitermachenkönnen.

Wo alles Text ist, gibt es kein Werk mehr, nur noch »Halbzeug«, jenes Übergangsprodukt zwischen Rohstoff und Fertigfabrikat, das weder ganz unbehauen noch endgültig abgeschlossen ist. Und weil es gleichzeitig lesbarer Code und ausführbares Programm sein kann, beherbergt das Digitale auch die Sammlung von Instrumenten zu seiner eigenen Verarbeitung. Ins Arsenal einer wirklichen Gegenwartsliteratur gehören daher gerade jene Programme, Modelle und Funktionen, die auf der untersten Ebene des Digitalen ansetzen, datamoshing betreiben und in den digitalen Urtext eingreifen. Und das führt zwangsläufig zurück zu den Techniken der Aleatorik, Iteration und Kombinatorik – jenen dadaistischen und surrealistischen Lieblingsspielen, die Gysin aufgriff und denen sich heute die zweite Generation der digitalen Literaten wieder zuwendet.

Der Begriff stammt von der Hayles-Schülerin Jessica Pressman: Hatte sich die erste noch in der Hoffnung auf das absolut Neue dem Hypertextenthusiasmus der Neunziger verschrieben, so betreibt die zweite Generation eine große Inventur und beruft sich auf die klassischen Avantgarden der zwanziger Jahre, den Konzeptualismus der Sechziger, auf Situationismus, konkrete Poesie und Oulipo – und versucht insgesamt, die Modernepoetiken des 20. mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts umsetzen.

Was Pressman »digital modernism«[11] nennt, die Vermischung von neuen Medien und alten Avantgardeansätzen, zeigt sich am besten bei einer Literaturrichtung, die zunächst wenig mit dem Digitalen zu tun zu haben scheint: dem konzeptuellen Schreiben, dessen lauteste Stimme der Amerikaner Kenneth Goldsmith ist.[12] Seine eigene Textproduktion ist zwar nicht born digital – er verfolgt einen literarischen Appropriationismus, den er »unkreatives Schreiben« nennt, und tippte etwa für sein Buch Day eine Ausgabe der New York Times von vorne bis hinten ab. Aber weil er sich weniger als Autor, sondern als »Textmanager« versteht, der vorhandenen Text nur rearrangiert statt neuen zu produzieren, ist das Digitale für ihn das größte aller Arsenale und das konzeptuelle Schreiben die reinste Form der Halbzeugrotation.

In seinem poetologischen Manifest Uncreative Writing lobt er Seite um Seite jene Autoren der zweiten Generation, die appropriieren, konzeptualisieren und vor allem programmieren, um aus vorhandenem Text neuen zu schaffen. Sie bauen »Schreib-Maschinen«, indem sie sich selbstgewählten Prozeduren und Algorithmen unterwerfen, die sie, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr kontrollieren und deren Ergebnisse immer weiter verwendet werden können. Ihre Mittel sind oft digital, aber viel wesentlicher ist, dass es auch die Perspektive auf die Welt ist, die sich in diesen Texten ausdrückt. Wer wissen will, wie Literatur aussieht, die eine Ahnung hat, was »das Digitale« sein könnte: Hier ist sie.

Das ist noch nicht das Ende vom Lied. Goldsmith, die Flarfer und die digitalen konzeptuellen Schreiber eint die Hoffnung, dass es doch möglich sein sollte, den Autorgenius zu streichen und, im Maximalfall, Poesie ganz ohne menschliche Einmischung kontrolliert passieren zu lassen. So wie Vilém Flusser vom fünften Kultursprung als der Zeit des Technobilds sprach – des Bilds, das nicht mehr sinnhaft darstellend auf eine Wirklichkeit referiert, sondern allein durch Apparaturen hervorgebracht ist –, könnte man beim Extremfall dieser Literatur von Technotexten sprechen, wenn zu ihrer Herstellung der menschliche Agent so weit reduziert wurde, dass sein Einfluss verglichen mit dem der Textmaschinen und Schreibalgorithmen gegen null konvergiert. Und auch hier ist nur die Herstellung technisch delegiert. Der kanadische Dichter Christian Bök sinnierte schon 2001 über eine »Robopoetik«,[13] die den Algorithmen nicht nur die Produktion, sondern auch die Rezeption von Texten überlässt, eine »Poesie für nichtmenschliche Leser, die noch nicht existieren, weil solche Aliens, Klone oder Roboter sich noch nicht zur Fähigkeit des Lesens entwickelt haben«.

Solche Fantasien sind in Zeiten von Posthumanismus, object oriented ontology und Spekulativem Realismus zumindest als Limesvorstellungen plausibel. Das in diesen Richtungen formulierte Ziel, mit der Demokratie der Dinge den Anthropozentrismus aller menschengemachten Ontologie zu unterlaufen, ist der Hoffnung analog, im Digitalen den Autor wie den Leser völlig aus der Literatur zu streichen. Es kann gut sein, dass »das Digitale«, konsequent zu Ende gedacht, ganz ohne Menschen auskommt, oder sich Mensch und Digitales so weit vermischen, dass die Unterscheidung keinen Sinn mehr hat. Bis es aber soweit ist, bleibt die alte Kategorie des »Sinns« als Kriterium ästhetischer Urteile noch die unübertretbare Grenze des Posthumanismus.

Auch Gysin, der selbst als Großvater dieser Tendenz noch ein digitaler Romantiker war, hoffte auf mystischen Sinn,[14] und sogar Goldsmith gibt zu, dass der unoriginal genius, der er zu sein vorgibt, nur eine Fiktion ist: »In dem Moment, in dem wir Urteilsvermögen und Qualität aus dem Fenster werfen, kommen wir in die Bredouille.« Das Schöpferische, so die Botschaft, bricht selbst im gesucht Unkreativen wieder hervor, man kann nicht nicht schaffen, denn auch der Textmanager muss immer noch auswählen und wegschmeißen. Im konzeptuellen Schreiben ist der auktoriale Akt nicht verschwunden, er verschiebt sich lediglich von der Ausführung eines Produktionsprogramms zu dessen Abbruch.

»Halt« zu sagen: Vielleicht ist das das Minimum des Autors, das nicht totzukriegen ist. Auch das ist eine Lehre der alten Avantgarden: Die Musik von John Cage, die Literatur von George Perec ist gerade dort interessant, wo sie von den selbstgesetzten Regeln abweicht. Und als Gysin sein Gedicht ohne Autor dreizehn Jahre nach dessen Entstehen wiederveröffentlichte, waren aus den mathematisch vorgeschriebenen 120 Zeilen inzwischen 601 geworden – nach keiner Regel, sondern allein der Schriftbildästhetik und der Rhythmik der Zeilen folgend vervielfacht.

Solange wir also noch keine Cyborgs sind, ist die Beibehaltung dieses erratischen humanen Elements womöglich der angemessenere Ansatz einer Literatur, die unsere Erfahrung des Digitalen – auch in seiner Vorläufigkeit – artikuliert. Dabei macht es gar nichts, dass unklar ist, wie sie es leistet, solange sie es nur versucht. Die Rückkehr zur Moderne mit dem Arsenal der Gegenwart kann zumindest ein Weg dahin sein. Viel schwerer, als die unterstellte Unfähigkeit zu erleben, wiegt nämlich die Unlust zu experimentieren.

Dahinter steht die Einsicht, die Friedrich Kittler einmal formulierte: dass ein Text wie ein Molotowcocktail sei – man müsse ihn werfen.[15] Und damit ist zweierlei gesagt, nämlich sowohl, dass ihm noch viel zur vollwertigen Bombe fehlt, der Text eher ein Guerillainstrument ist, als auch, dass er eben nicht ist, bevor er nicht geworfen wurde – dass man einen Text nicht einfach aus der Hand geben, sondern vielmehr schleudern soll. Das Ziel ist dabei fast egal, wenn es nur die Welt ist – und die ist heute, genau: digital.

 

ZUSATZBEMERKUNG: ›Digital/das Digitale‹

Es ist behaupteten worden, dass der Begriff der ›digitalen Lyrik‹ in sich unsinnig sei, »da jede Literatur, die alphabetisch notiert ist und sich auf analogen Parametern wie [graphetischem] Schriftbild oder [phonetischer] Lautlichkeit nicht begründet, bereits digital, nämlich in diskreten Zeichen gespeichert ist.«[16] So korrekt das formal ist, übersieht diese Insistenz aber den Unterschied zwischen der exakten Begrifflichkeit eines terminus technicus und seiner legitimen tropischen Anwendung. Dass Bishops an der etwas überstrapazierten Sprache der ontisch-ontologischen Differenz orientierte Neuprägung ›Das Digitale‹ bereits den metaphorischen und synekdochischen Charakter des Adjektivs ›digital‹ hypostasiert, macht ihn nur falsch für den, der meint, dass von einer Epoche der Digitalisierung – und eines damit zusammenhängenden Epistems – zu sprechen unsinnig ist. Insofern kann man bei der Verwendungsweise ›das Digitale‹ von einer Rückterminologisierung der Metaphorisierung eines Begriffs sprechen; dass ›digital‹ hier mehr als nur ›diskret‹ bedeutet, versteht sich von selbst, aber stur auf der Grundbedeutung zu beharren hieße, sich eine heuristisch fruchtbare Dimension nehmen: Das Digitale bedeutet etwas, das über das Diskrete hinausgeht; dass wir noch nicht wissen, was das ist, macht weder den Begriff nutzlos noch seinen Ursprung vergessen.

NACHWEISE:

[1] Laura Hoptman (Hg.), Brion Gysin. Dream Machine, New York 2010, S. 79.

[2] Brion Gysin, Cut-Ups Self-Explained. In: Jan Herman (Hg.), Let The Mice In. With Texts by William S. Burroughs and Ian Sommerville, West Glover 1973, S. 11.

[3] »Tristan Tzara and I used to bump into one another sometimes in the late 50’s around about midnight, for a standup steak and a beer at the circular zinc counter of the old Royal Saint Germain, now transmogrified into the monstrous Le Drugstore, where no poets meet who can help it. Every time we met, Tzara would whine, ›Would you be kind enough to tell me just why your young friends insist on going back over the ground we covered in 1920?‹ What could I say, except, ›Perhaps they feel you did not cover it thoroughly enough.‹ Tzara snorted: ›We did it all! Nothing has advanced since Dada – how could it! […] I created poems in the air when I tore up a dictionary to pull the words out of a had and scatter them like confetti – and all that was way back in 1920.‹« Interview with Brion Gysin. In: Nicholas Zurbrugg (Hg.), Art, Performance, Media. 31 Interviews, Minneapolis 2004, S. 190.

[4] Russell W. Belk, Extended Self in a Digital World. In: Journal of Consumer Research, Okt. 2013, doi:10.1086/671052.

[5] Claire Bishop, Digital Divide. Contemporary Art and New Media. In: Art Forum, Sept. 2012.

[6] Reinhard Jirgl, Im Stein jeder Gegenwart liegt die Skulptur der Zukunft. In: Neue Rundschau, Nr. 1, 2014 (Manifeste für eine Literatur der Zukunft).

[7] Stephan Porombka, Hypertext. Zur Kritik des digitalen Mythos, München 2001.

[8] William S. Burroughs/Brion Gysin, The Third Mind, New York 1978, S. 9.

[9] Katherine N. Hayles, Virtual Bodies and Flickering Signifiers. In: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago 1999, S. 25.

[10] Hans Blumenberg, Sokrates und das ‚objet ambigu‘. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstands. In: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/M 2001, S. 83.

[11] Jessica Pressman, Digital Modernism. Making it New in New Media, Oxford 2014.

[12] Kenneth Goldsmith, Uncreative Writing, New York 2011; auf deutsch erschien: Ders., Dumm. In: Merkur, Nr. 776, Januar 2014.

[13] Christian Bök, The Piecemeal Bard Is Deconstructed. Notes toward a Potential Robopoetics.

[14] Trotzdem verfolgte auch Gysin eine negative Anthropologie, die weniger menschlichen als göttlichen Sinn suchte – der freilich kein christlicher war: „I am a monumental misanthropist. Man is a bad animal, maybe the only bad animal. […] No one but man threatens the survival of the planet. Space Man may well blow up planet Earth behind him. When ya gotta go. […] Now we know what we are here for. We are not here to love, fear, and serve any old bearded but invisible thunder god. We are here to go.“ Brion Gysin/Terry Wilson, Here to Go. Planet R-101, San Francisco 1982, S. xiv f.

[15] In Bezug auf Kittler mündlich überliefert von Avital Ronell; geht auf Foucault zurück, der in seinen Büchern Brandbomben sehen wollte. Dass Mao von ihnen gar als Atombomben gesprochen haben soll, legt eine ganz eigene Metaphorologie des Textes als Waffe nahe.

[16] Florian Cramer, Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts (2007), S. 9 f.