[Dieser Text erschien zuerst auf dem Suhrkamp-Blog Logbuch Suhrkamp.]
Im letzten Jahr stellten Swantje Lichtenstein und Tom Lingnau einer Reihe von Autoren die Frage: Is the artist necessary for making art today? Was am Ende ein schmales Büchlein wurde, nahm seinen Ausgang mit dem Projekt Covertext, das sich dem Konzeptualismus und der Appropriation in der Literatur widmet. Vor diesem Hintergrund also wurde die Frage formuliert, welche Verbindung noch zwischen Künstler und Kunst besteht –, denn wenn in der konzeptuellen Literatur die Idee wichtiger als die Ausführung ist und wenn im reinen Sichaneignen und Kopieren fremden Materials keine Schöpfung im klassischen Sinne mehr vorliegt, ist die Idee der Autorschaft in der Tat in einer Zwickmühle angelangt, denn sie verhält sich dem Werk gegenüber flüchtig und ausweichend: Wer ist der Autor eines Buches, dessen Autor eigentlich ein anderer ist? Borges’ Pierre Menard lässt grüßen.
Ein Beiträger, Scott Myles, antwortete lakonisch: »Without the artist there’s no art«. Damit ist die Sache natürlich erledigt. So wie alle Junggesellen unverheiratet sind, ist alle Kunst von Künstlern gemacht. Was ist der Unterschied zwischen Junggesellen und Kunst? Womöglich der, dass Kunst und Künstler in keinem tautologischen Verhältnis zueinander stehen, sondern sehr gut voneinander getrennt gedacht werden könnten, weil sie historisch variable Größen sind. »Künstler« war nie ein objektiver Begriff, seine Aufgaben- und Einflussbereiche haben sich von der Renaissance über die Romantik, den Naturalismus, die klassische Moderne und Postmoderne vom Handwerker zum Genie zum Wissenschaftler zum Diskursknotenpunkt stetig gewandelt; desgleichen »Kunst«. Appropriation und konzeptuelle Literatur sind da lediglich die letzte Volte.
Interessant an den eingehenden Antworten war dann auch, dass ein Großteil von ihnen diesen Kontext überhaupt nicht aufnahm. Stattdessen schoss man sich, im Guten wie im Schlechten, auf eine andere, aber verwandte literarische Spielart ein: Die Codeliteratur, die Text per geskripteter Algorithmen produziert. Einerseits zeigt das die Nähe von Code und Konzept, dass nämlich Codes Konzepte formalisieren und ausführbar machen können; andererseits scheint hier tatsächlich, wie Tobias Roth kürzlich im Logbuch Suhrkamp formulierte, jene »eigentümliche Frenetik« die Autoren bei der Vorstellung zu ergreifen, »dass die Maschinen ihnen die Arbeit abnehmen« könnten. Gelegentlich grenzt diese Furcht vor dem Digitalen an ein neues Maschinenstürmertum, das sich am liebsten gleich alle technischen Eingriffe in das Wirken des Autors verbitten möchte.
Auch Roth ist skeptisch. »Is the artist necessary for making art today?« sei die »Vorspiegelung eines Umstandes, der nicht der Fall ist«. Indem er verschweigt, was denn hier angeblich vorgespiegelt wird (es ist ja nur eine Frage), leitet auch er ohne Erklärung auf das Thema technologisch generierter Kunst um. Dabei geht er die Frage zunächst differenziert an: Mag sein, dass Kunstproduktion vom Autorsubjekt fast völlig abgekoppelt werden kann, aber eben nur fast. Irgendjemand muss immer den Anfang machen, den ersten Anstoß geben, der was auch immer in Gang bringt. Und doch setzt Roth gleich hinzu: »Medium, Form, Werkzeug stehen in der Mitte und stellen kein Material, keine Initiative; sie haben auch kein Gedächtnis, vielleicht einen Speicher, wenn es hoch kommt.« Das aber sind zwei verschiedene Argumente: Ein kausales, das nach dem Initial fragt, und eines, das viel eher das Ausmaß im Auge hat, in dem die Mittel, die »Werkzeugkästen« ihre einmal begonnene Arbeit verrichten und das eventuell von Quantität in Qualität umschlagen kann. Hier ist eine ganz eigene humanästhetische Ontologie im Spiel, wie sich bald herausstellt, denn Roth geht es dabei ums Ganze: »Welches Vermögen, welcher Begriff bezeichnet diesen Überhang, der Mensch von Maschine trennt?« Die Antwort folgt: »Geist wäre ein Name für diese Kluft.«
Was sich hier auftut, ist eine Verknüpfung der Begriffe Maschine, Künstler und Geist, die alle auf den der Schöpferkraft, oder schlimmer: Kreativität zulaufen. Maschinen (worunter auch Codes fallen) können nicht »kreativ« sein, oder zumindest ist gefragt, »ob die Maschine Musik auch machen kann oder sie nur abspielen. Oder Literatur, oder Malerei, es ist eine offene Liste.« Weil den Maschinen Geist abgeht, der aber Voraussetzung für die Kreativität, am Ende für »Genie« ist, kann die Maschine niemals Kunstproduzent werden; kreativ oder genial ist immer nur der Programmierer, der sie in Gang setzt. Muss es aber »Geist« sein, muss es dieser »Geist« sein? Ist das alles eine gute Beschreibung von »Geist«? Oder von »Maschine«?
Versteht man unter »Geist«, was etwa der inzwischen klassische Teil der Philosophie des Geistes darunter versteht, nämlich die Emergenz von Bewusstsein, lautete die Frage: Wie können Maschinen ohne Bewusstsein Kunst produzieren? Dann haben Maschinen kein Bewusstsein, ergo keinen Geist und können nicht schaffen. Versteht man unter »Geist« anima oder spiritus, den göttlichen Hauch, dann ohnehin nicht; und noch die romantische Idee des »Geistes« als Genie ist in ihrem Kern theologisch. Was aber, wenn man »Geist« anders versteht, in einer Weise, die die Differenz zwischen Mensch und Maschine verwischt?
Hier ist die auf Andy Clark und David Chalmers zurückgehende Idee des extended mind hilfreich: Das ist eine Vorstellung von »Geist«, der sich eben nicht rein neuronal, physiologisch im Hirn verorten lässt, sondern der zu seiner Funktion auch auf die Welt zugreift, so dass sich am Ende der Genius nicht allein im Kopf, sondern eben im Raum zwischen Kopf, Hand und meinetwegen Gänsekiel abspielt. Ist man nicht eben inselbegabt, schreibt man schließlich nicht komplette Texte in einem Guss nieder, sondern schafft sie in einem stetigen Rückkopplungsprozess zwischen Objektwelt und Bewusstsein. Wenn ich den Text nicht schreiben könnte, ohne ihn auf dem Bildschirm oder Papier zu sehen, dann steckt diesem »aktiven Externalismus« zufolge »Geist« eben auch im Blatt, in der Tastatur, im Kuli oder im Bildschirm.
Aber auch »Maschine« wird hier falsch verstanden. Die Metapher von der »Schreib-Maschine«, die man sich baut, taucht bei der Diskussion um Codeliteratur öfter auf. Dabei entsteht vielmals der Eindruck, als würden auktoriale Allmachtsfantasien gehegt, und man sieht in den Maschinen und den vielbeschworenen »Algorithmen« eine Form von Herrschaftswillen. Das könnte man den autoritären Fehlschluss nennen. Der autoritäre Fehlschluss besteht darin, in der Formulierung von Vorgaben für die Generierung von Text bereits das Vorgeben des Textes selbst zu sehen. Das vergisst aber, dass solche Formulierung von Regeln – die jede »Maschine«, jeder »Algorithmus« zum Grund haben muss – ihr Ergebnis oft überhaupt nicht kennt, das Gegenteil von Autorenmacht ist, sondern eher eine Form der Selbstauslieferung; klassische Autorschaft ist damit verglichen viel mehr von Kontrolle geleitet.
Ich habe etwa ein Programm gebaut, das mir den Roman Durchschnitt verfasst hat. Das in der Programmiersprache Python geschriebene Skript besteht zwar nur aus einer Handvoll Zeilen und operiert nach einem geradezu lächerlich simplen Rezept – berechne aus dem Textkorpus aller Romane aus Marcel Reich-Ranickis Kanon die durchschnittliche Satzlänge; lösche alle Sätze anderer Länge; sortiere diese Sätze alphabetisch – aber das Ergebnis hätte ich mir nie vorstellen können, noch auch nur realistisch manuell erarbeiten. Mein Geist springt in die Maschine, ohne die er nicht so hätte agieren können, wie er es getan hat.
Nimmt man beides zusammen, den erweiterten Geist und die Maschine, die mehr weiß als ich, beginnt die Frage, wer hier wessen Werkzeug ist und wessen Geisteserweiterung, langsam zu verschwimmen. Zumindest muss man sagen, dass hier die Maschine nicht nur eine weitere Einflussverlängerung des Prothesengottes Mensch ist, sondern selbst, und in gewissem Sinne autonom, geschaffen und produziert hat, weil ohne sie das nun existente Mehr an Kunst nicht in der Welt wäre.
Von meinem primitiven Programm ließe sich diese Angewiesenheit immer weiter fortsetzen, so dass bei der Zunahme von Komplexität die Abhängigkeit des Programms vom Programmierer noch weiter abnimmt; den Limes dieser Entwicklung zu finden, wäre reizvoll. Dass die Netzwerkkommunikation immer mehr Sprache produziert, die allein zwischen Computern ausgetauscht wird, ohne menschliche Leser zu finden, darauf hat Christian Bök hingewiesen. Ist ein Text denn keine Kunst, wenn keiner da ist, ihn zu lesen? David Jhave Johnston spricht in diesem Zusammenhang gar von einem »ästhetischen Animismus«, der eben jene Maschine-Maschine-Kommunikation als gleichermaßen belebt, eben »geistvoll« betrachtet.
Vielleicht aber sollte man Begriffe wie Geist und Kreativität in Bezug auf Kunst und Literatur gleich ganz abschaffen; der Geist, den Roth meint, steht dabei immer noch dem Begriff des Genies am nächsten, dem großen, autonomen, schöpferischen und mächtigen. Es scheint, als seien hier romantische Annahmen am Werk, die auch heute noch den Autoren- und Künstlerbegriff dominieren, wo er sich operationell auch auf die Start/Stop-Rufe reduzieren ließe.
Schließlich lautete der Aufruf an die Schreibenden von heute, sich nicht allein auf dem einen, heroisch-romantischen Autorenverständnis auszuruhen, sondern auch, unkontrolliert zu schaffen, das »eskalierte Schreibenlassen« (der Slogan von 0x0a) zu üben – und damit meine ich: programmieren zu lernen. Einerseits, wie es der Coder und Lyriker Jörg Piringer sagte, um dem historisch von jeher immerzu versagenden Maschinenstürmern eine praktische Alternative entgegenzusetzen: »die poetinnen der kommenden jahre werden nicht zusehen und konzernen die hoheit über die sprachalgorithmen überlassen. sie werden für rechenmaschinen schreiben.« Und, andererseits, so den Geist, der ohnehin schon in unseren Maschinen hängt – und mit ihm auch die Grenzen der Literatur – noch weiter auszudehnen.